… alle anderen sind SpezialistInnen …

Heute ist erneut eine Werbung für eine Weiterbildung in meinem Postfach gelandet: Neurolive wirbt für eine Weiterbildung zum Thema COVID-19 „… Patienten mit neurologischen Erkrankungen sind im besonderen Mass betroffen …“. Auch Pneumolive hat mich schon zur Expertensendung eingeladen “ … sind in besonderem Masse von COVID-19 betroffen …“

Mit Sicherheit stimmt das: der chronisch kranke Mensch – sei es pneumologisch, neurologisch, endokrinologisch, gastroenterologisch – ist in besonderem Masse betroffen. Es stimmt auch, dass wir diese Patienten besonders schützen und behandeln müssen. Will heissen, dass wir uns all ihren Beschwerden widmen. Aber macht es tatsächlich Sinn, dass man sich diesen Patienten nur mit dem Spezialistenauge zuwendet? Braucht es nicht viel mehr den Blick für die Synthese mit Einbezug aller Erkrankungen, aller Wünsche und Sorgen der Patienten, um auch in einer COVID-19 – Situation dem Patienten gerecht zu werden? Braucht es nicht das internistische Auge, das geschult ist eine priorisierende, vollständige Diagnoseliste zu erstellen, die versucht alles „unter einen Hut zu bringen“?

Ich bin überzeugt und die aktuelle Krise hat mir recht gegeben. Die Internisten mit Überblick waren die meist gefragtesten MitarbeiterInnen. Sei es auf der Abklärungsstation, auf der Isolierstation, auf dem Notfall, auf der Intensivstation – überall waren wir im Einsatz, sehr willkommen und vor allem einsatzfähig.

Viele Spezialisten haben Leitlinien entworfen, die auf die Beantwortung einer Spezialfrage fokussieren. Das waren nicht nur die Neurologen und Pneumologen. Das waren auch die Palliativmediziner, die Gerinnungspezialisten, die Infektiologen. Die entsprechenden Erkenntnisse und Aspekte sind zweifellos wichtig – aber sie müssen immer im Gesamtkontext betrachtet und kritisch hinterfragt werden. Dies gilt in COVID-Zeiten in besonderem Masse, denn die Evidenzlage im Blätterwald der vielen Publikationen ist meistens dünn.

Dieser Blick auf den Gesamtkontext ist und bleibt unsere Aufgabe – auch oder gerade in Krisen.

Verfasst von:
Elisabeth Weber

Elisabeth Weber ist seit dem Studium der Medizin als Spitalinternistin tätig. Als Kaderärztin war sie am UniversitätsSpital Zürich, Spital Männedorf und am Stadtspital Waid und Triemli tätig. Seit Mai 2020 ist sie Chefärztin der Klinik Innere Medizin Standort Waid.

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Elisabeth Weber & Lars C. Huber