(…) kein einziges medizinisches Testresultat kann ohne Berücksichtigung der Vortestwahrscheinlichkeit interpretiert werden. Um mit H.C. Sox zu sprechen: „If you once accept this principle, life will never be the same again.“
Rudolf Speich
Engramme zu ausgewählten Laboruntersuchungen
Generell gilt: Jedes Testresultat ist nur im Kontext der Vortestwahrscheinlichkeit („clinical gestalt“) interpretierbar. Oder anders: es wird immer Ärzte an der Front brauchen, welche abnorme Laborwerte im Kontext von klinischer Präsentation und Kofaktoren interpretieren.
Die Vortestwahrscheinlichkeit wird unter Zuhilfenahme aller verfügbaren Informationen und vor der Bestimmung des Laborwertes formuliert. Die Nachtestwahrscheinlichkeit ergibt sich aus der Vortestwahrscheinlichkeit und den spezifischen Eigenschaften des jeweiligen Tests.
Procalcitonin
Das Procalcitonin ist eine inaktive Vorstufe des Schilddrüsenhormons Calcitonin und wird u.a. bei Septikämien in erhöhten Serumkonzentrationen gemessen. Als Biomarker zur Unterscheidung von viralen und bakteriellen Erregern bzw. zur Abgrenzung von nicht-infektiösen Entzündungszuständen ist es allerdings wenig geeignet – ein perfekter cutoff zur Diskrimination existiert nicht, auch nicht bei Pneumonien. Wenn es bei Patienten mit akutem Husten und Verdacht auf eine Pneumonie zusätzlich zu CRP und Blutbild bestimmt wird, ist der diagnostische Nutzen fraglich. Auch die einschlägigen Guidelines empfehlen die Bestimmung des Procalcitonins zur Diagnosestellung nicht. Generell: Auf die Bestimmung des Procalcitonins kann im klinischen Alltag verzichtet werden.
ANA
Antinukleäre Antikörper können auch bei „Gesunden“ erhöht sein. Niedrigtitrige ANAs (1:40) finden sich in bis zu 30% der gesunden Population, die Seroprävalenz von ANAs hat zudem über die letzten drei Jahrzehnte kontinuierlich zugenommen. Die klinische Bedeutung dieser Befunde ist unklar.
„False-positive ANA results are common, occurring in 3% to 15% of healthy people (…). Thus, ANA testing should not be performed in patients with low pretest probability of an autoimmune disease. Also, with few exceptions, ANA subserologies are usually negative if the ANA result is negative.“
Arora JAMA Intern Med 2017
Vor dem Spannungsfeld, dass diese Autoantikörper sowohl bei Gesunden („falsch-positiv“), im Kontext anderer Krankheiten (z.B. Hashimoto Thyreoiditis), als auch bereits viele Jahre vor der klinischen Manifestation einer Autoimmunkrankheit auftreten können, ist eine sehr selektive Bestimmung dieser Marker angezeigt. Oder anders: eine Bestimmung von ANAs ohne Klinik bzw. bei tiefer Vortestwahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer rheumatologischen Krankheit ist sinnlos.
Umgekehrt ist bei normwertigen ANAs das Vorliegen einer Kollagenose (insbesondere SLE) sehr unwahrscheinlich. Auf eine Subtypendifferenzierung (ENA = extractable nuclear antigens) sollte deshalb bei normwertigen ANA verzichtet werden. Eine Ausnahme bilden anti-SSA bei Verdacht auf ein Sjögren-Syndrom und anti-Jo-Antikörper bei Polymyositis/ Antisynthetase-Syndrom.
ANCA
Generell ist der Rücklauf an positiven Resultaten („yield“) bei der Bestimmung von antineutrophilen cytoplasmatischen Antikörpern (ANCA) gering. Mit anderen Worten: ANCAs werden zu häufig und zu unselektiv bestimmt. Klinische Hinweise, die das Vorliegen einer Vaskulitis wahrscheinlich machen, sind:
- rapid-progressive Glomerulonephritis (RPGN)
- Alveoläre Hämorrhagie
- pulmorenales Syndrom
- Mononeuritis multiplex
- palpable Purpura
- chronisch-destruierende Atemwegserkrankung
- subglottische Trachealstenose
- Retroorbitale Masse
- „Multiorgan disease“ mit entsprechender Konstellation
Rheumafaktoren
Rheumafaktoren entsprechen Immunglobulin-Komplexen, die vorwiegend aus IgM und IgG bestehen, welche sich gegen körpereigene IgG richten. Rheumafaktoren, die bei Patienten ohne Gelenkssymptomatik bestimmt werden, entsprechen meistens falsch-positiven Befunden: sie kommen auch bei Gesunden und bei anderen Entitäten (Kryoglobulinämie, Endokarditis lenta, u.a.m.) vor.
Engramm: Die Bestimmung von Rheumafaktoren lohnt sich bei Verdacht auf eine kryoglobulinämische Vaskulitis: bei negativem Resultat ist das Vorliegen einer Kryoglobulinämie sehr unwahrscheinlich.
„As suggested by our data, the best time to obtain this test may be when suspicion of a rheumatic disease is low, but high enough that a negative test result would provide significant reassurance. The clinician should be prepared, however, to interpret a positive result in the context of the test’s limitations.“
Shmerling Arch Intern Med 1997
ACE
Der ACE-Serumspiegel (Angiotensin Converting Enzyme) wird im Kontext einer Sarkoidose bestimmt. Allerdings ist eine ACE-Erhöhung keineswegs spezifisch für eine Sarkoidose. Zwischen Krankheitsaktivität und ACE-Serumkonzentrationen besteht ebenfalls keine gute Korrelation – die Aussagekraft von ACE zur Sarkoidoseaktivität ist vergleichbar mit dem Vorhandensein einer Lymphopenie, welche mittels Differentialblutbild einfacher, günstiger und routinemässig bestimmt wird. Zu beachten ist ausserdem, dass die ACE-Serumspiegel durch eine ACE-Hemmertherapie beeinflusst werden. Generell: Aufgrund der ungenügenden Sensitivität (40%) und des tiefen positiven Prädiktionswertes (25%) sollte auf eine ACE-Bestimmung verzichtet werden.
Literatur
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